Cannabis in der Tumorschmerztherapie

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Cannabis­-Präparate als Medikament: Erste Auswertungen zeigen, dass die Erwartungen nicht erfüllt werden.

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Cannabishaltige Präparate sind in Deutschland seit März 2017 zur Behandlung bestimmter Krankheiten beziehungsweise Beschwerden zugelassen. Das bedeutet, dass die Krankenkassen die Kosten übernehmen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Um welche Voraussetzungen es sich handelt und wann Cannabis überhaupt Sinn macht, erläutert PD Dr. Jens Keßler, Oberarzt der Klinik für Anästhesiologie und ärztlicher Leiter der Sektion Schmerzmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg.

Mamma Mia!: Herr Dr. Keßler, es gab kaum ein Medium, das damals nicht über die Botschaft aus dem Bundesgesundheitsministerium berichtet hat: Cannabisprodukte auf Rezept. Wie haben Sie diese Nachricht aufgenommen?
PD Dr. Jens Keßler: Naja, um ehrlich zu sein, haben wir uns über diesen Schritt angesichts der schwachen Datenlage gewundert. Das Bundesinstitut für Arzneimittel konnte mit Inkrafttreten des neuen Gesetzes „Cannabis als Medizin“ keine Informationen oder Empfehlungen zur therapeutischen Anwendung geben. Es wurde lediglich auf die wissenschaftliche Literatur und eventuell vorhandene Empfehlungen einzelner Fachgesellschaften verwiesen. Praktisch bedeutet das, dass die Therapiehoheit beim ärztlichen Personal liegt. Bei Verschreibung von Cannabisarzneimitteln zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung wurden Ärzte deshalb verpflichtet, an einer bis zum 31. März 2022 laufenden nicht interventionellen Begleiterhebung teilzunehmen, um weitere Erkenntnisse über die Wirkung von Cannabis als Medizin zu gewinnen.

Mamma Mia!: Gibt es schon Ergebnisse aus dieser Begleiterhebung?
PD Dr. Jens Keßler: Zum Zeitpunkt der Zwischenauswertung im Mai 2020 lagen mehr als 10.000 vollständige Datensätze vor. Bei fast drei Viertel der Patienten waren Schmerzen der Grund des Einsatzes von Cannabis. Im Gegensatz zu den Inhalten vieler Medienberichte über das neue „Wundermedikament“ hat sich herausgestellt, dass die Therapie bei 35 Prozent der Behandelten bereits im ersten Jahr abgebrochen werden musste. Führender Grund war die nicht ausreichende Wirkung, gefolgt von einem breiten Spektrum an Nebenwirkungen, vor allem psychiatrischer Symptome und neurologischer Störungen. Auf der anderen Seite wurde bei den Fällen mit Schmerz als primär behandeltem Symptom der Therapieerfolg in 34 Prozent als deutlich verbessert beurteilt.

Mamma Mia!: Setzen Sie seit dieser Gesetzesänderung persönlich Cannabisarzneimittel ein?
PD Dr. Jens Keßler: In bestimmten Fällen verschreiben wir den Wirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol) bereits seit vielen Jahren. Allerdings mussten Patienten die sehr teure Therapie vor 2017 meist selbst bezahlen. Diese Kosten werden jetzt von der Krankenkasse erstattet, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Durch die gesetzliche Regelung verläuft der Genehmigungsprozess heute schneller – ein Vorteil für die Patienten.

Mamma Mia!: Wann ziehen Sie eine Behandlung mit Cannabis in Betracht? Und welche Voraussetzungen müssen für eine Rezeptierung erfüllt sein?
PD Dr. Jens Keßler: Das Gesetz ist im Sozialgesetzbuch verankert und besagt, dass Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit Cannabis haben, wenn eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach begründeter Einschätzung unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann.
Das bedeutet, dass wir bei tumor-bedingten Schmerzen zunächst mit einer standardisierten und nach einem von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Schema vorgehen, bevor wir Cannabis in Betracht ziehen.

Mamma Mia!: In welcher Darreichungsform steht Cannabis zur Verfügung?
PD Dr. Jens Keßler: Die häufigste Darreichungsform sind Arzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, es gibt aber auch Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität. Bei der Verschreibung von getrockneten Blüten sollten die Wirkstoffe mithilfe eines Verdampfers verabreicht werden. Vom herkömmlichen Rauchen ist abzuraten, weil zu viele Schadstoffe in die Lunge gelangen und die Kombination mit Tabak zusätzlich gesundheitsschädigend ist.

Mamma Mia!: Sie sprachen vorhin von anderen Schmerzmedikamenten, die wirkungsvoll sind. Um welche Wirkstoffe handelt es sich hier?
PD Dr. Jens Keßler: Vor der Wirkstoffauswahl steht immer eine sorgfältige Anamnese. Wir wollen insbesondere wissen, wo der Schmerz herkommt. Der Tumor selbst schmerzt nicht, Schmerzen entstehen erst, wenn er auf andere Körper teile drückt oder wenn Nerven in Mitleidenschaft gezogen werden. So unterscheiden wir dumpfen Schmerz (nozizeptiv) von brennendem oder plötzlich einschießendem Schmerz (neuropathisch). Zur symptomatischen Therapie nozizeptiver Schmerzen folgen wir dem bereits erwähnten WHO-Stufenschema. Dieses Schema sieht verschiedene Schmerzmittel vor, die opioidfrei sind und mit opioidhaltigen Medikamenten kombiniert werden können. Die Behandlung von Nervenschmerzen ist etwas schwieriger. Hier haben wir Erfolge mit Medikamenten gegen Epilepsie oder Depressionen. Da das leider wenig bekannt ist, werden viele Schmerzpatienten nicht optimal versorgt. Daneben spielen auch nicht-medikamentöse Behandlungs-formen (etwa Physiotherapie, manuelle Lymphdrainage und eine psychologische Anbindung und Betreuung) im Sinne einer multimodalen Schmerztherapie eine entscheidende Rolle.

Mamma Mia!: Was raten Sie Krebspatienten, die unter Schmerzen leiden?
PD Dr. Jens Keßler: Die Tumorschmerztherapie ist eine onkologische Aufgabe. Wenn aber keine begleitende tumorspezifische Therapie stattfindet oder die Schmerzen trotz onkologischer Anbindung nur unzureichend eingestellt werden können, empfehle ich die Behandlung durch Ärzte mit der geschützten Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“. Heutzutage müssen die wenigsten Krebspatienten unter starken Schmerzen leiden, wir finden fast immer einen Weg, diese zu lindern.

Mamma Mia!: Das Gesetz hat damals die Diskussion um die generelle Legalisierung von Cannabis entfacht, deshalb abschließend die Frage: Wie stehen Sie dazu?
PD Dr. Jens Keßler: Die eine Diskussion hat mit der anderen nichts zu tun. Wir reden bei der Änderung der Gesetzgebung von einem Medikament, was auch als solches betrachtet werden muss, mit all seinen Wirkungen und Nebenwirkungen. Der Konsum zum Zwecke der Bewusstseinsveränderung, also des Rauschzustandes, muss ganz anders betrachtet und diskutiert werden. Hier lauern eine Reihe von allgemeinen Gefahren wie das Suchtpotenzial, aber auch kurzfristig und konkret auftretende Psychosen und Verhaltensänderungen. Übrigens möchte ich in diesem Zusammenhang dringend davon abraten, sich bei Schmerzen oder depressiven Verstimmungen auf eigene Faust Cannabis zu besorgen, weil sehr viele unterschiedliche Pflanzen mit unterschiedlichem Wirkstoffgehalt im Umlauf sind. Der Konsum solcher Produkte kann unvorhersehbare Folgen haben.

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