Mamma Mia!: Herr Professor Kleeberg, was versteht man konkret unter dem Begriff Palliativmedizin?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: „Palliativmedizin“ beschreibt die Behandlung und Begleitung von Patienten, deren Krankheit in ein unheilbares Stadium übergegangen ist. Bei Krebspatienten bedeutet dies eine fortgeschrittene Metastasierung, bei der eine gegen das Tumorleiden gerichtete Therapie mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Stattdessen ist der kranke Mensch mit seinen Beschwerden und Ängsten Ziel der ganzheitlichen Bemühungen.
Mamma Mia!: Welche konkreten Maßnahmen beinhaltet die Palliativmedizin?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Bei einer palliativen Behandlung steht nicht mehr der Tumor und dessen Bekämpfung, sondern der ganze Mensch im Fokus. So geht es zunächst darum, alle somatischen Beschwerden wie zum Beispiel Schmerzen, Luftnot, Ernährungsstörungen, Schlaflosigkeit und so weiter zu behandeln. Weiterhin müssen aber auch die psychischen Belastungen, wie Angstzustände, Depressionen oder Unruhe vor dem jeweiligen sozialen Hintergrund erkannt und gelindert werden. Behandlung und Begleitung erfolgen unter Berücksichtigung und Einbeziehung des gesamten Umfeldes der Patienten, also auch der Angehörigen. An dieser Stelle zitiere ich gerne Cicely Saunders, die in England in den 60er Jahren das erste Hospiz eröffnete. Sie sagte: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben“.
Mamma Mia!: Wer stellt den Therapieplan auf?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Nun, ganz wichtig für die Palliativmedizin ist, dass wir sowohl interdisziplinär wie auch interprofessionell in einem Team zusammenarbeiten. Interdisziplinär bedeutet, dass Mediziner verschiedener Disziplinen, wie Onkologen mit palliativmedizinischer Qualifikation, Palliativmediziner, Psychologen, Internisten, Gynäkologen und Strahlentherapeuten gemeinsam den bestmöglichen Therapieplan erstellen. Im palliativen Stadium arbeiten wir aber zusätzlich interprofessionell. Das heißt, in einer palliativmedizinischen Tumorkonferenz helfen neben dem interdisziplinären Ärzteteam auch Pflegekräfte, Ernährungsberater und Sozialarbeiter, den besten Weg für den Kranken zu finden.
Mamma Mia!: Das klingt sehr gut. Doch wie sieht es in der Realität aus? Werden die palliativmedizinischen Tumorkonferenzen flächendeckend durchgeführt, beispielsweise in Brustzentren?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Das ist eine berechtigte Frage… Die flächendeckende Durchführung ist unser Ziel, aber noch sind wir nicht so weit. Von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) und der Deutschen Gesellschaft für Senologie (DGS) setzen wir uns dafür ein, dass immer mehr Brustzentren tatsächlich in diese Richtung arbeiten und zwar gemeinsam mit assoziierten Schwerpunktpraxen, also transsektoral. In den Brustzentren sind zunächst die operativen Disziplinen, also vorrangig die Gynäkologie, dafür verantwortlich, alle Patientinnen umfassend zu betreuen. Betroffene mit weit fortgeschrittenen Erkrankungen bedürfen der internistisch-onkologischen und psychoonkologischen Expertise im Rahmen der aufgeführten interprofessionellen Teamarbeit. Dazu mögen sie in andere Abteilungen verlegt oder an Schwerpunktpraxen überwiesen werden. Grundsätzlich wichtig – und das bedarf noch der weiteren Entwicklung – müssen alle onkologisch tätigen Ärztinnen und Ärzte auch Kenntnisse auf dem Gebiet der Palliativmedizin haben, um gegebenenfalls frühzeitig die Unterstützung von Fachärzten für Palliativmedizin suchen zu können. Je eher dies der Fall ist, desto besser ist das für die Patienten und ihre Angehörigen.
Mamma Mia!: Wie sieht es mit der Aus- beziehungsweise Weiterbildung in der Palliativmedizin aus?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Die entsprechende Aus-, Weiter- und berufsbegleitende Fortbildung wird derzeit von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) weiter entwickelt. So sollen früh im Medizinstudium und dann in der Weiterbildung zum Facharzt – gleich welcher Disziplin – Kenntnisse und ein Bewusstsein für die Bedeutung der Palliativmedizin und notwendiger beruflicher Interaktionen auf dem Gebiet der Onkologie geschaffen werden. Ab 2015 muss jeder Medizinstudent sein Staatsexamen auch für den Fachbereich Palliativmedizin ablegen. Das hat zur Folge, dass die Universitätskliniken und Lehrkrankenhäuser für den praktischen Unterricht auch Palliativstationen bereitstellen werden.
Mamma Mia!: Das bedeutet, dass wir in den kommenden Jahren mehr Palliativstationen zur Verfügung haben werden?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Naja, auf der einen Seite aus den eben genannten Gründen ja. Auf der anderen Seite machen uns einige private Krankenhausbetreiber Sorgen. Immer mehr gemeinnützige Kliniken werden von privaten Betreibergesellschaften übernommen und damit der öffentlichen Kontrolle entzogen. Die Führung teurer, weil personalintensiver Palliativstationen rechnet sich wirtschaftlich nicht. Das schmälert die Rendite. Wir hatten so einen Fall in Hamburg: Ein privater Betreiber hat Kliniken übernommen und sogleich den hoch renommierten Chefarzt der größten Palliativstationen entlassen. Andere private Betreiber haben ihre umfassende Aufgabe erkannt und bemühen sich. Wir müssen also solche Entwicklungen sorgsam verfolgen und uns gegebenenfalls entschieden wehren – Ärzte wie Patienten.
Mamma Mia!: A propos Palliativstation – wie sieht es in Deutschland generell mit einer flächendeckenden Versorgung Schwerstkranker aus?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Zur Versorgung Schwerstkranker gibt es bei uns ja verschiedene Einrichtungen – Palliativstationen, Hospize, onkologische und palliativmedizinische Tageskliniken und Schwerpunktpraxen. Dazu kommt die „Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV)“, auf die seit 2007 jeder Bürger per Gesetz Anspruch hat, wenn auch von den gesetzlichen Krankenkassen sehr schleppend realisiert. Im europäischen Umfeld liegt unsere Versorgung trotz einer geringeren Zahl stationärer Einrichtungen und der bekannten Mängel weit oben. In anderen Ländern gibt es erhebliche Versorgungsengpässe, was dort auch zu einem großzügigen Umgang mit dem Thema Euthanasie führt.
Mamma Mia!: Was ist die Aufgabe der „Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung“?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Bei der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) arbeitet, wie oben dargestellt, ein Team bestehend aus Palliativmedizinern, hierfür qualifizierten internistischen Onkologen, Ärzten für Anästhesiologie, Psychologen und Pflegekräften, Seelsorgern und Sozialarbeitern zusammen und betreut Schwerstkranke zuhause. Wichtig bei der SAPV ist, dass die internistische Onkologie involviert ist, um gegebenenfalls eine kausale Behandlung in Anspruch nehmen zu können. So kann es durchaus Sinn machen, durch eine tumorgerichtete onkologische Behandlung die Ursache der Beschwerden statt allein die Schmerzen mit Opioiden zu lindern, beispielsweise durch Bestrahlung oder Chemotherapie. Das unterscheidet unter anderem die onkologische SAPV von der Allgemeinen Ambulanten Palliativversorgung (AAPV).
Mamma Mia!: Sie sagten, dass seit 2008 das Recht auf die SAPV gesetzlich verankert ist. Heißt das, dass die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten tragen?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Sagen wir mal so – sie sollten sie tragen. Leider hat es sehr lange gedauert, bis sich die Kassen darauf eingestellt hatten. Viele zahlten erst auf Drohungen beziehungsweise Klagen von Ärzten und Betroffenen. Auch heute tun sich noch einige Kassen schwer mit der Kostenübernahme.
Mamma Mia!: Und wer trägt die Kosten eines Hospizaufenthaltes?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Bei Hospizen werden die Kosten nur zum Teil von der Kasse getragen. Die Patienten werden dann von ihren behandelnden Ärzten weiter betreut, diese Kosten also aus dem allgemeinen vertragsärztlichen Budget finanziert. Oder es steht ein vom Hospiz angestellter Palliativmediziner zur Verfügung. In diesem Bereich spielt auch die ehrenamtliche Mitarbeit vieler Bürgerinnen und Bürgern eine große Rolle.
Mamma Mia!: Kommen wir noch einmal auf die Behandlungsmöglichkeiten im fortgeschrittenen Krankheitsstadium zurück. Welche Möglichkeiten gibt es aus onkologischer Sicht?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Insbesondere bei Brustkrebs gibt es eine ganze Menge Behandlungsmöglichkeiten, wobei die Kompetenz des internistischen Onkologen gefordert ist, ein Therapieprotokoll zu finden, gegen das der Tumor noch nicht resistent ist und das der diesbezüglich ja erfahrene Kranke auch mit trägt. Zu nennen ist zum Beispiel eine „metronomische Chemotherapie“. Das ist eine orale, tägliche, niedrig dosierte und damit gut verträgliche Dauertherapie, die den Tumorverlauf hemmen kann. Darüber hinaus gibt es neue Substanzen, die noch nicht eingesetzt wurden oder im Rahmen von Studien zur Verfügung stehen. Dann spielt auch die Strahlentherapie eine wichtige Rolle. Sie ermöglicht häufig eine schnelle Reduktion von Beschwerden, desgleichen auch palliative operative Eingriffe. Um es noch mal zu betonen, immer ist mit dem Patienten und Angehörigen zu klären, ob eine solche kausale Intervention vernünftig ist und verspricht, dem Kranken die gewünschte Erleichterung zu bringen.
Mamma Mia!: Wer entscheidet denn, wann welche Maßnahme Sinn macht?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Das sollte, wie bereits gesagt, im besten Fall die palliativmedizinische Tumorkonferenz entscheiden. Hier ist das multiprofessionelle Team gefragt. Ganz wichtig ist sicherzustellen, dass die verordnete Therapie nicht belastender ist als die Krankheit selbst. Es gilt die „Twist“ (time without symptoms and toxicity) zu verlängern. Dabei spielt natürlich der Wunsch der Patienten eine entscheidende Rolle.
Mamma Mia!: Wie stehen Sie zum Thema Euthanasie?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Aktive Sterbehilfe wird in Deutschland generell unter Strafe abgelehnt und ich schließe mich dieser Haltung uneingeschränkt an. Auch die zum Beispiel in den Niederlanden praktizierte „terminale Sedierung“, also eine innerhalb von Stunden zum Ende führende Betäubung mit dem Ziel, den Kranken zu töten, lehne ich ab. Wir haben so viele Möglichkeiten, die Betroffenen bis zum Schluss zu begleiten, ihnen „Kraft zum Leben“ zu geben und ihre Autonomie zu erhalten. Wir müssen heute das Leben nicht vorzeitig beenden, um den Kranken von seinen Qualen zu erlösen. Eine vorübergehende Bewusstlosigkeit, die „palliative Sedierung“, kann bei einem kleinen Prozentsatz von Schwerkranken dagegen sehr hilfreich sein und verkürzt nicht das Leben. Anders verhält es sich mit der so genannten „passiven Euthanasie“. Das bedeutet, dass lebensverlängernde Maßnahmen, wie beispielsweise eine künstliche Ernährung bei ausgedehntem Befall der Leber oder die Behandlung einer Lungenentzündung bei Lungenmetastasen, nicht ergriffen werden, wenn dies dem vielleicht in einer Erklärung zuvor festgelegten Wunsch des Betroffenen entspricht und von den Angehörigen mitgetragen wird. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Krebskranker sich dann dem einfühlsamen Rat seines Onkologen oder Palliativmediziners widersetzt oder eine „zweite Meinung“ angefordert hätte, wenn er wusste, dass er von einem onkologisch-palliativmedizinischen Team betreut wird.
Mamma Mia!: Herr Professor Kleeberg, gibt es etwas, das Sie unseren Leserinnen und Lesern persönlich ans Herz legen möchten?
Prof. Dr. U. R. Kleeberg: Ja, das möchte ich. Ich möchte an alle Patienten appellieren, den Mut aufzubringen, uns Fragen zu stellen, Kritik zu äußern. Am besten sollten die Fragen, so wie sie sich entwickeln, schon im Voraus notiert werden. Wir empfehlen unseren Patienten, dafür ein Tagebuch zu führen und mitzubringen. So können wir Empfindungen, Beschwerden und Gedanken besser nachverfolgen. Darüber hinaus finde ich es ganz wichtig, dass Angehörige, sofern welche vorhanden sind, die sich an der Betreuung beteiligen, mit zu den Arztgesprächen kommen, um die Betroffenen zu unterstützen.