„Soziale Medien können hilfreich sein – wenn die Dosis stimmt“

iStock-953783202_SocialMedia_ArtikelHeader
© iStock / ipopba
Print Friendly, PDF & Email

Die sozialen Medien haben eine hohe Anziehungskraft – auch auf Krebspatienten. Viele erzählen ihre Geschichte, teilen ihre Erfahrungen und Gefühle, informieren sich in den zahlreichen Gruppen, fühlen sich verstanden. Aber: Kann das auch gefährlich sein?

Print Friendly, PDF & Email

Mamma Mia! sprach mit der Psychotherapeutin Annette Nauman über Segen und Fluch von Facebook, Instagram und Co.

Mamma Mia!: Social Media bietet vielen Menschen eine Plattform. Einerseits um sich zu informieren, andererseits aber auch, um ihre eigene Geschichte zu erzählen. Wo liegen hier Chancen, wo Risiken für die Psyche – gerade auch im Hinblick auf Menschen mit einer Erkrankung wie Krebs?

Annette Naumann: Menschen brauchen – insbesondere in schwierigen Situationen – andere Menschen, um sich auszutauschen. Und Gleichbetroffene sind in der Regel Gleich-gesinnte, weil alle in der Gruppe das gleiche „Problem“ haben. Das wiederum heißt: Sie werden verstanden. Mit allem, was sie beschäftigt oder verzweifeln lässt. Das ist zunächst eine Chance, etwas Positives, denn geteiltes, insbesondere mitgeteiltes, Leid ist oft halbes Leid. Weil die anderen es mittragen.

Doch das kann auch zu einem Risiko werden. Wenn ich schon vor der Erkrankung, in der realen Welt dazu neige, sehr empathisch zu sein, wirkt jede gute Nachricht besonders hoffnungsvoll, aber jede schlechte zieht einen noch mehr runter. Ein Zitat von Erfolgscoach Jim Rohn lautet: „Du bist der Durchschnitt der fünf Menschen, mit denen du die meiste Zeit verbringst. In der Neuropsychologie nennt sich das „Pacing“ und bedeutet, dass man andere Menschen imitiert – unbewusst und auch bewusst. In Mimik, Gestik, Stimme und Verhalten. Das bedeutet: Das Verhalten der anderen beeinflusst unser Verhalten tatsächlich. Die Gefühle der anderen sind mitbestimmend dafür, wie wir uns fühlen!

Und das gilt natürlich auch in der virtuellen Welt. Das eigene Bauchgefühl sollte daher stets als eine Art Kompass dienen. Hinterfragen Sie sich regelmäßig: Fühle ich mich nach dem Austausch beziehungsweise dem Konsum in diesem Forum/in dieser Gruppe besser oder schlechter? Ist dieses Forum aktuell das richtige für mich? Finde ich hier das, was ich gerade brauche? Das kann sich natürlich im Laufe der Zeit – und je nachdem, in welchen Foren gerade welche User aktiv sind – auch verändern. Machen Sie sich klar, dass Sie jederzeit aussteigen und abschalten können, wenn es Ihnen zu viel wird oder es Ihnen nicht mehr guttut.

Mamma Mia!: Wie unterscheiden sich die Chancen und Risiken bei aktiven Nutzern, also Leuten, die viel posten, von denen bei eher passiven Nutzern, die sich die Inhalte nur anschauen?

Annette Naumann: Ob man eher der mitteilungsstarke Typ ist, oder mehr der Zuhörer beziehungsweise stille Leser ist, ist wie im echten Leben, eine Typsache. Daher ist das nicht pauschal zu beantworten.

Jeder geht anders mit Problemen und Krankheit um. Situations- und typbedingt wollen sich manche einfach nur mal „ausheulen“, andere suchen tiefen Austausch und wieder andere vielleicht nur nach Informationen. Krebs ist eine Diagnose, die alles verändert und unfassbar viel Kraft kostet. Die wichtigsten, sich selbst zu stellenden Fragen könnten daher immer lauten: Was brauche ich jetzt ganz konkret in dieser Situation, damit es mir besser geht? Was tut mir gut, was belastet mich? Womit könnte ich mich entlasten? Gerade für introvertierte oder eher zurückhaltende Menschen können die sozialen Medien eine Chance sein, sich in einem mehr oder weniger anonymen Umfeld auszuprobieren. Fragen Sie sich, was Sie jetzt gerade brauchen, was Ihnen guttun würde. Und dann wagen Sie sich ruhig einmal aus Ihrer Komfortzone hinaus!

Wie fühlt es sich an, wenn ich mich anderen zumute? Wie fühlt es sich an, wenn ich selbst mal Druck ablasse? Wie fühlt es sich an, wenn ich mich abgrenze, meine eigene, vielleicht ganz andere Meinung zu einem Thema geradeheraus kundtue? Das mag sich am Anfang zunächst noch fremd anfühlen, vielleicht aber auch befreiend. Vielleicht so gut und befreiend, dass Sie dieses neue Verhalten sogar mal im „echten“ Leben ausprobieren möchten.

„Soziale Medien können sich sehr persönlich anfühlen – was uns weniger kritisch macht!“

Mamma Mia!: Eine Gefahr von Social Media sind die Fake News. Auch in Bezug auf Krebs wird viel Unwahres gepostet. Wie kann ich mich vor so etwas schützen?

Annette Naumann: Einer im Journal of the National Cancer Institute veröffentlichten Studie zufolge enthält einer von drei der beliebtesten Artikel über Krebsbehandlungen in den sozialen Medien Fehlinformationen. Die überwiegende Mehrheit soll sogar Informationen enthalten, die potenziell Schaden anrichten können. „Wundermeldungen“ erhalten deutlich mehr Klicks als Artikel mit wissenschaftlich, evidenzbasierten Informationen. Das wiederum ist kein Wunder, denn an Krebs erkrankte Menschen wünschen sich verständlicherweise genau dies.

Wichtig ist also, diesen Trend zu durchschauen: Soziale Medien können sich trotz Anonymität sehr persönlich anfühlen, was dazu führen kann, dass wir den Menschen oder Gruppen, denen wir folgen, leichter vertrauen, weniger kritisch sind. Hellhörig sollten wir immer werden bei reißerischen Über-schriften und Schlagwörtern wie Wunder oder Heilung. Schauen Sie sich die Quellen genau an, checken Sie das Alter des Artikels, kopieren und speichern Sie den Artikel in einem privaten Ordner, den Sie im Nachgang mit einem Experten (außerhalb dieser Foren) erörtern können.

Mamma Mia!: Wie merke ich, dass Facebook, Instagram und Co. zu viel Raum in meinem Leben einnehmen, sowohl in der aktiven als auch in der passiven Nutzung? Wann und wie sollte und kann ich gegensteuern?

Annette Naumann: Soziale Medien können gerade in Krisen und Krankheit hilfreich sein, da wir uns – ohne das Haus verlassen zu müssen – austauschen, vernetzen und interagieren können. Klingt zunächst nach einer Chance. Und das ist es auch, wenn man die Dosis im Auge behält. Denn eines sollten wir nicht vergessen: Es steht immer ein Business hinter den Sozialen Medien. Die Betreiber wollen, dass wir uns so lange wie möglich auf ihren Plattformen aufhalten, damit diese attraktiv für Werbepartner sind.

Menschen in Krisen oder mit einem geringen Selbstwertgefühl sind anfälliger dafür, in die Welt der Sozialen Medien zu flüchten. Die reale Welt kann so zunehmend ausgeblendet werden und wer viel postet, bekommt viel Aufmerksamkeit und Bestätigung durch Likes und Kommentare. Dabei entsteht manchmal Druck regelmäßig Beiträge zu posten, um mehr Aufmerksamkeit und Bestätigung zu erhalten.

Wenn Sie sich nicht vorstellen können einige Tage ohne soziale Medien zu verbringen, die alltäglichen Aufgaben vernachlässigen, die Zeit, die Sie online verbringen herunterspielen oder sich sogar Ihre Stimmung verändert, wenn Sie nicht online sein können, sind das starke Warnsignale.

Sprechen Sie dann mit Angehörigen und Freunden aus Ihrem nicht virtuellen Umfeld über das Thema. Offene Gespräche mit anderen fördern die bessere Einschätzung der Situation. Im nächsten Schritt sollten Sie sich fragen, was die Gründe für Ihre Soziale-Medien-(Sehn-)sucht sind und wie sie stattdessen das gewünschte Gefühl im „echten“ Leben erzeugen können. Medien-Sucht lässt sich übrigens am ehesten zügeln, wenn Sie alle Push-up-Nachrichten abschalten und sich ein Zeitlimit für das Surfen in den sozialen Medien setzen. Hilfreich kann dabei auch eine App sein, die nicht nur Ihr Nutzungsverhalten dokumentiert, sondern Sie auch automatisch zu einem von Ihnen selbst festgesetzten Zeitlimit von den von Ihnen bestimmten Plattformen abmeldet.

Das Internet und die Sozialen Medien sind per se weder positiv noch negativ. Wir, beziehungsweise unser Nutzungsverhalten, – die Dosis bestimmt das Gift – können sie zu einem hilfreichen Werkzeug, einem tröstlichen Ort, einer Plattform zum Aus   tausch oder zu einer potenziell nachzurecherchierenden Informationsquelle machen.

Tatsächlich können soziale Medien ein schöner und bereichernder Teil unseres Lebens sein. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass sie nur ein kleiner Teil des Lebens sind und die „echte“ Welt genauso Wirken und Wunder bereithält, wenn wir unseren gedanklichen Fokus entsprechend ausrichten.

Annette Naumann

Privatpraxis für Psychotherapie (HPG), Coaching & Mentoring
Neuhöfer Straße 3163263 Neu-Isenburg
Tel.: + 49 (0) 6102 308618
Mobil +49 (0) 176 24248948
E-Mail: an@annette-naumann.com

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Interessante Artikel der gleichen Kategorie