„Der Kampf mit der Krankenkasse, die menschenunwürdige Behandlung durch die Gutachterinnen des Medizinischen Dienstes, die über jeglichem Rat der Fachärzte und dem Empfinden der Patientin stehen, sowie die Masse an Attesten, Gutachten und Widersprüchen, an der ich letztlich zerbrochen bin, waren für mich hundert Mal schlimmer als die Krebserkrankung selbst“, erzählt Bea, 47 Jahre alt, alleinerziehende Mutter eines Sohnes. Dabei will sie nur eins: dass die Kosten für die Fertigstellung der Brustrekonstruktion, die aufgrund medizinischer Schwierigkeiten abgebrochen werden musste, von der Krankenkasse übernommen werden. Ohne Erfolg. Doch der Reihe nach.
Körperliche und seelische Belastung durch Rechtstreit
Bea hat im Zuge ihrer Krebserkrankung die Entfernung beider Brüste sowie der Eierstöcke und Gebärmutter hinter sich. Sie entschied sich, ihre Brüste mit Eigengewebe aufbauen zu lassen. Diese umfassende Operation musste aufgrund medizinischer Komplikationen abgebrochen werden. Die Kostenübernahme für die Fortsetzung der Operation wird von der vivida bkk unter Berufung auf ein Gutachten des Medizinischen Dienstes Hessen (MD) abgelehnt. Die Gutachterin des MD sieht in der Operation einen „rein kosmetischen Eingriff“.
Zwar erhielt Bea die Zusage für die noch ausstehende Brustwarzenrekonstruktion, nicht aber für die Angleichung der Brüste. Der Unterschied beträgt zwei Körbchengrößen. Ein Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz blieb erfolglos. Eine Klage vor dem Sozialgericht ist anhängig, könnte aber Jahre dauern. Die aktuelle Situation mit dem unvollständigen Brustaufbau belastet Bea körperlich und seelisch stark. Sie ist mittlerweile arbeitsunfähig, ihr Sohn befindet sich in Therapie.
Fachärztliches Gutachten liegt vor
Der behandelnde Facharzt für Plastische Chirurgie kritisiert die Entscheidung der Krankenkasse und des MD als fachlich falsch und medizinisch nicht vertretbar. Die Ablehnung einer rekonstruktiven Brustoperation nach Mastektomie mit dem Verweis auf ästhetische Gründe sei absurd. Gemäß medizinischer Leitlinien (S3-Leitlinie) habe jede Frau in Deutschland Anspruch auf eine Brustrekonstruktion zur Wiederherstellung der körperlichen Integrität. Dies umfasse auch mehrere notwendige Operationsschritte, inklusive Angleichung der Gegenseite und Narbenkorrekturen.
Die Entscheidung der Krankenkasse erfolge in völliger Ignoranz der Einschätzung der Fachärzte, jedoch unter Würdigung von Gutachten, die ohne Facharztstatus für Plastische Chirurgie erstellt wurden. Das Vorgehen sei entwürdigend, wirtschaftlich widersinnig und medizinisch nicht nachvollziehbar. Der Arzt fordert die sofortige Übernahme der Kosten oder die Einholung eines neutralen, fachärztlich fundierten Gutachtens durch eine/n Lehrstuhlinhaber/in der Plastischen und Ästhetischen Chirurgie. Die derzeitige Situation sei für alle Beteiligten belastend und führe zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit der Patientin.
Juristische Grundlage: Wiederherstellung als Teil der Heilbehandlung
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist die Wiederherstellung der körperlichen Integrität nach einer Mastektomie grundsätzlich vom Leistungsanspruch der gesetzlichen Krankenversicherung gedeckt. Der Anspruch auf sogenannte MAP-Versorgung (medizinisch-ästhetisch-plastische Versorgung mit autologem oder körperfremdem Material) ist integraler Bestandteil der ärztlichen Heilbehandlung (§ 27 SGB V).
Denn: Wird in den Körper eingegriffen, ist dieser möglichst im Rahmen der Heilung wiederherzustellen – dies unterscheidet sich grundlegend von Eingriffen an einem gesunden Körper zur bloßen kosmetischen Veränderung (BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 35/15 R). Trotzdem lehnt Beas Kasse die Kostenübernahme ab und verweist auf die Rechtsprechung zur sogenannten „Entstellung“ und argumentiert mit einer nicht ausreichenden „objektiven Erheblichkeit“ der Auffälligkeit.
Das Entstellungsargument – nicht immer anwendbar
Der Verweis auf das Merkmal der krankheitswertigen Entstellung stammt aus einer anderen Fallgruppe: plastisch-chirurgische Eingriffe ohne vorherige medizinische Notwendigkeit, etwa bei angeborenen Fehlbildungen oder stark asymmetrischer Brustentwicklung. Nach Ansicht des BSG (Urteil vom 10.03.2022 – B 1 KR 3/21 R) liegt eine relevante Entstellung nur dann vor, wenn eine Auffälligkeit bereits bei flüchtiger Begegnung im öffentlichen Raum – im bekleideten Zustand – deutlich erkennbar ist und regelmäßig zu einer Fixierung des Interesses Dritter führt. Dies bedeutet eine Erregung von Aufmerksamkeit im öffentlichen Raum und im bekleideten Zustand.
Das Bundessozialgericht hat die Rechtsprechung in seiner Entscheidung vom 10.3.2022 (B 1 KR 3/21 R – BSGE 134, 13) wie folgt weiterentwickelt: „An regelmäßig durch Kleidungsstücke verdeckten Bereichen des Körpers müssen die Auffälligkeiten besonders schwerwiegend sein. Erforderlich ist, dass selbst die Offenbarung im privaten Bereich die Teilhabe, etwa im Rahmen der Sexualität, nahezu ausschließen würde. Hierbei ist nicht das subjektive Empfinden der Betroffenen maßgeblich, sondern allein die objektiv zu erwartende Reaktion. Die Auffälligkeit muss evident abstoßend wirken. …” Wenn schon das Empfinden der Betroffenen nicht relevant ist, darf zumindest die Frage erlaubt sein, wer entschiedet, ob eine „Entstellung“ im Rahmen der Sexualität „evident abstoßend wirkt“. Darauf hatte bisher kein Gesprächspartner eine Antwort.
“Hierbei ist nicht das subjektive Empfinden der Betroffenen maßgeblich, sondern allein die objektiv zu erwartende Reaktion.”
Diese sehr hohe Schwelle gilt nach oben beschriebener Sachlage nicht für Fälle wie den von Bea, bei denen eine medizinisch indizierte Operation, nämlich die Tumorentfernung, zur körperlichen Veränderung geführt hat. Hier sollte der Anspruch auf Wiederherstellung bestehen, und zwar unabhängig davon, ob eine „gesellschaftlich auffällige Entstellung“ vorliegt.
Die Praxis: Fehlinterpretation durch Krankenkassen und Begutachtungsstellen
In der sozialmedizinischen Praxis werden die Kriterien für eine Entstellung häufig auf Fälle nach Mastektomie übertragen – fälschlicherweise. Der MD stützt sich dabei auf den „Begutachtungsleitfaden plastisch-chirurgische Eingriffe“ (Stand: 02.12.2024), in dem die Wiederherstellung nach medizinischen Eingriffen zwar als vorrangig anerkannt wird, die konkrete Ausgestaltung jedoch im Einzelfall offengelassen bleibt. Es existieren keine verbindlichen Maßstäbe, wie stark die verbleibende Asymmetrie oder das Fehlen einer Brust ausgeprägt sein muss, um einen Leistungsanspruch zu begründen. Zugleich stellt auch der MD klar: Maßgeblich ist nicht das subjektive Erleben der Betroffenen, sondern allein die objektiv zu erwartende Reaktion der Umwelt – auch im privaten Bereich.
Die Unsicherheit bleibt – Betroffene zahlen den Preis
Die ablehnende Haltung der Kasse ist für Bea nicht nur ein Affront bei allen Strapazen, die die Krebserkrankung mit sich bringt. Sie stellt aus Sicht von Ärzten und Patientenvertretern auch eine strukturelle Lücke in der Rechtsanwendung dar. Denn die Reichweite des Leistungsanspruchs bei rekonstruktiven Maßnahmen nach Mastektomie ist höchstrichterlich nicht abschließend geklärt. Das BSG betont selbst, dass zur Klärung weitere Verfahren nötig seien, um eine verbindliche Linie für Einzelfallentscheidungen zu entwickeln. Solange solche Musterverfahren ausbleiben, bleibt die Rechtslage für Betroffene wie Bea unsicher – und der Gang durch die Instanzen oft der einzige Weg, zu einem rechtssicheren Ergebnis zu kommen. „Mir erscheint es so, als sei die lange Durststrecke im Entscheidungsprozess eine durchaus gewünschte Möglichkeit, die der Wirtschaftlichkeit in die Karten spielt, wenn die Patientin mangels Durchhaltevermögen ihr Recht aufgibt“, sagt Bea.
- Widerspruch einlegen: Innerhalb eines Monats können Sie schriftlich widersprechen – am besten mit Unterstützung Ihrer Ärztin oder Ihres Arztes und unter Verweis auf die BSG-Rechtsprechung.
- Beratung nutzen: Patientenberatungen, Fachanwälte oder Selbsthilfegruppen helfen bei der Durchsetzung Ihrer Rechte.
- Gutachten prüfen: Fordern Sie das Gutachten des MD an und lassen Sie es gegebenenfalls juristisch bewerten.
- Klage einreichen: Wird der Widerspruch abgelehnt, können Sie kostenfrei beim Sozialgericht klagen.
Die Informationen auf dieser Seite können eine professionelle Beratung durch ausgebildete und anerkannte Ärztinnen und Ärzte nicht ersetzen. Auch dienen sie nicht dazu, eigenständig eine Diagnose zu stellen oder eine Therapie einzuleiten.