Sexualität bei Krebs – ein neues Normal finden

Sexualität bei Krebs
© Gettyimages / Zinkevych

Eine Krebserkrankung wie Brustkrebs kann die weibliche Sexualität empfindlich stören. Lesen Sie, warum guter Sex ganzheitlich ist und Tipps, die Ihr Sexualleben wieder beflügeln können.  

 „Lebe deine Weiblichkeit – dennoch – in Fülle.“ Das ist das Fazit vieler Frauen, die ich als Psychoonkologin und Frauenärztin für die Krebsberatungsstelle Kloster Lehnin begleite. Ein Satz, der Mut machen will, aber auch irritieren kann. Denn für diejenigen, die noch mitten in ihrer Krebstherapie stecken oder gerade erst ihre Narben – die körperlichen wie die seelischen – tasten, mag „Fülle“ wie ein ferner Traum klingen. 

Wie kann dieser Traum vielleicht dennoch wahr werden? Ich möchte Ihnen Wege zu einem neuen Erleben von Weiblichkeit, Intimität und Partnerschaft nach einer lebenserschütternden Krise zeigen. Und ich möchte Antworten geben auf Fragen, die Sie vielleicht auch unausgesprochen begleiten: Wie kann ich Nähe zulassen, wenn ich selbst so zerbrechlich bin? Wie verändern sich meine Beziehung und meine Sexualität, wenn mein Körper sich verändert hat? Und wie finden wir als Paar zu einem neuen Wir, wenn alles Alte nicht mehr passt? 

Krebsdiagnose verändert oft die Partnerschaft

Eine Krebsdiagnose trifft Menschen meist wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nach dem Verklingen des Donnerhalls ist nichts mehr, wie es war. Viele beschreiben die erste Zeit danach als einen Zustand des Nebels, als würde man sich in einer undurchsichtigen Wolke verlieren. Wir erkennen unsere Welt nicht wieder und bewegen uns tastend voran. Manche reagieren mit Aktionismus, andere verfallen in eine Schockstarre. Alles kreist um das Überleben: Diagnosesicherung, Therapieplanung, Arztgespräche, Zweitmeinung einholen, Therapien und deren Nebenwirkungen. 

In dieser „Wolkenzeit“ erleben wir uns oft selbst fremd. Gefühle wie Angst, Überforderung, Orientierungslosigkeit oder Wut wechseln sich ab – oder sind alle zugleich da. Wir funktionieren, hoffen, bangen. Und immer hallt in uns die Frage nach: „Warum ich?“ 

Und wie wir selbst verändert sind, ist auch unsere Partnerschaft plötzlich anders. Wo vorher Nähe war, ist jetzt Rückzug. Wo Hilfe angeboten wird, fühlt sie sich manchmal wie Bevormundung an. Manche Paare verlieren sich, manche Paare rücken umso enger zusammen. Und Intimität? Ist in dieser Phase für viele weit weg – emotional und körperlich. 

Neue Beziehung - mit dem gleichen Partner?

Wenn die Krise abklingt – oder zumindest in ein „Damit-leben“ übergeht –, treten wir irgendwann aus der Wolke heraus. Wir sehnen uns nach unserem “alten” Leben zurück – wollen dass die “Wolkenzeit” nur ein schlimmer Traum war, der jetzt vorbei ist und vergessen werden kann. Doch kann der Ort, an dem wir aus der Wolke treten, nicht der gleiche sein, an dem wir sie betreten haben. Wir blicken uns um: Bin ich noch dieselbe? Ist mein Partner noch der gleiche? Sind wir noch ein Paar? 

Manche haben sich in der Krise neu gefunden, andere voneinander entfremdet. Viele erleben diese Phase wie den Beginn einer neuen Beziehung – mit einem Menschen, den man bereits lange kennt, aber nun neu kennenlernen muss – oder auch darf. In dieser neuen Partnerschaft braucht es Raum für all das, was war – aber auch für das, was jetzt möglich ist. Für alte Verletzungen, neue Rollen, veränderte Körperlichkeit. Und für Offenheit, Unsicherheit, vielleicht auch Humor. 

Guter Sex ist ganzheitlich

Vielleicht wird uns durch die Erkrankung jetzt erstmals richtig bewusst, was eigentlich schon immer galt: Sexualität ist mehr als nur körperlich. Sie wird von unseren Gedanken, Gefühlen und Empfindungen geprägt – und alle drei Bereiche können durch eine Krebserkrankung tief erschüttert werden. 

Zu unseren Gedanken

Häufig tragen wir negative Gedanken und Glaubenssätze schon länger mit uns herum. Nun werden sie durch die Erkrankung noch belastender. Es können Gedanken aufkommen wie „Ich bin nicht schön“ oder Schuldgefühle wie „Ich falle meinem Partner zur Last“ oder „Ich kann ihm nicht mehr das geben, was er braucht“. Auch Schamgefühle sind normal: „Ich gefalle mir nicht – wie soll ich meinem Partner gefallen?“ Sorgen begleiten uns ebenfalls: „Wird es weh tun?“, „Werde ich überhaupt noch etwas spüren?“ oder „Bin ich überhaupt noch attraktiv?“.  

Manche fühlen sich vielleicht sogar nicht mehr als „richtige“ Frau. Unser innerer Dialog prägt uns und geschieht meist unbewusst. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass auch unser Partner seine eigenen Gedanken, Ängste und Erwartungen hat. Manche Frauen belastet auch eine gestörte Körperwahrnehmung, die durch die Krankheit verstärkt werden kann. Hier braucht es oft professionelle Hilfe. 

Zu unseren Gefühlen

Wenn wir verstehen, wie stark unsere Gedanken von unserem Unterbewusstsein beeinflusst werden, erahnen wir vielleicht, wie mächtig unsere Gefühle wirklich sind.  

Stellen wir unseren Herzen doch einmal einige Fragen: Fühlst Du Dich Deinem Partner noch nah? Welche Gefühle kommen bei Dir in Bezug auf ihn auf – Liebe oder eher ein Pflichtgefühl? Empfindest Du Sehnsucht nach Berührung – oder hast Du Angst davor? 

Häufig gerät durch eine Krebserkrankung auch unser emotionales Gleichgewicht durcheinander – sei es durch hormonelle Veränderungen, Erschöpfung oder ungeklärte Konflikte. Viele Frauen erzählen mir in meiner Praxis, dass sie dazu neigen, sich selbst ganz hinten anzustellen. Wir sorgen für unsere Familie, Kinder, Eltern, Freunde und die Arbeit – und vergessen dabei oft uns selbst. Erst wenn wir völlig erschöpft sind, bemerken wir, dass wir zuerst gut für uns selbst sorgen müssen.  

Um Lust auf Sex zu empfinden, brauchen wir Frauen vor allem Entspannung – während Männer Sex häufig nutzen, um entspannen zu können. Krebs zwingt uns dazu, endlich uns selbst an die erste Stelle zu setzen. Doch auch wenn wir das schaffen, bedeutet das nicht automatisch Entspannung. 

Dazu kommen hormonelle Herausforderungen, die wir schon aus der Pubertät oder den Wechseljahren kennen – Stimmungsschwankungen, Erschöpfung, Gewichtszunahme, Hitzewallungen und Schlafprobleme. Durch eine Chemotherapie und Antihormontherapie werden all diese Symptome meist noch viel verstärkt. Viele Frauen fühlen sich einfach nur erschöpft und abgeschlagen. Erinnern wir uns deshalb immer wieder: Wir Frauen brauchen Entspannung, um Lust zu empfinden. 

Zu unserem Körper

Viele Frauen leiden darunter, dass ihr Körper nach der Krankheit nicht mehr derselbe ist wie vorher. Während einer Chemotherapie verlieren wir oft Haare – auf dem Kopf und manchmal am ganzen Körper. Haare haben für uns Frauen häufig etwas sehr Weibliches. Noch weiblicher aber ist für viele Frauen die Brust. Nach einer Operation bleiben oft Narben, manchmal Schmerzen und Taubheitsgefühle zurück. Manche Frauen müssen sogar eine komplette Brustentfernung verkraften. Mit der Brustwarze verlieren wir zudem eine erogene Zone und kämpfen manchmal dauerhaft mit Schmerzen im operierten Bereich. 

Ein weiteres Thema, über das kaum gesprochen wird, ist Scheidentrockenheit. So oder so verlieren wir Frauen im Lauf unseres Lebens das vaginale Estriol, welches zu einer gesunden Scheidenflora beiträgt und den Vaginalbereich in gewisser Weise geschmeidig hält. Im Falle einer Krebserkrankung – insbesondere bei Brustkrebs und anderen hormonabhängigen Krebsarten – verschärft sich das noch. Aus Angst vor einem Rückfall verzichten viele Frauen auf eine mögliche Behandlung mit lokalem Östrogen, obgleich es deutliche Besserung der vaginalen Gesundheit und somit dann auch der Möglichkeit des vaginalen Verkehrs bedeuten würde. Viele Frauen berichten mir auch einfach nur: „Ich spüre mich nicht mehr wie früher.“. 

Gedanken, Gefühle und Körper beeinflussen sich gegenseitig. Sie zeigen uns, dass Sexualität nicht nur eine Funktion ist, sondern vor allem eine Begegnung – mit uns selbst und mit unserem Partner. Und diese Begegnung braucht Zeit, Vertrauen und Neugier. 

Lust entsteht durch echte Begegnungen

„Du bist nicht deine Gedanken.“ – ein Satz, der vielleicht esoterisch klingt, aber neurobiologisch erklärbar ist. Unser Gehirn produziert ständig Gedanken – es bewertet, erinnert, warnt. Und wenn wir ihm keine Aufgabe geben, übernimmt oft das sogenannte „Default Mode Network“ – es sorgt für Gedankenkreisen, Selbstkritik, Zukunftsangst. 

Die gute Nachricht: Wir müssen diesen Gedanken nicht folgen. 
Gerade in fragilen Zeiten kann es sehr hilfreich sein, sich in liebevoller Achtsamkeit zu üben. Meditationen, positive Selbstmitteilungen oder Affirmationen, Atemübungen zur Entspannung, das Führen eines Glückstagebuchs (denn nur die Dankbaren sind die Glücklichen) – all das kann helfen, wieder im Hier und Jetzt anzukommen. Und genau dort entsteht Lust. Nicht im Kopfkino, sondern in der echten Begegnung mit sich selbst – und dem anderen. 

Was geht (noch)? – Lust und Sexualität jenseits der alten Routinen

Vielleicht scheint vaginaler Sex momentan nicht möglich oder er fühlt sich nicht mehr angenehm an? Vielleicht ist auch die vertraute Zärtlichkeit nicht mehr selbstverständlich? 
Aber was kann stattdessen möglich sein? Vielleicht helfen Ihnen diese Tipps: 

  • Suchen und finden Sie neue Wege, um sich nah zu sein. 
  • Vielleicht sind Berührungen möglich, die keinen Druck auslösen und nichts “leisten” müssen. 
  • Erkunden Sie gemeinsam neue Grenzen und auch neue Möglichkeiten. 
  • Nutzen Sie Hilfsmittel wie Gleitgel, Kissen oder auch Massageöle. 
  • Vielleicht lachen Sie gemeinsam, wenn etwas nicht wie geplant klappt. 
  • Erlauben Sie sich Pausen und auch gemeinsames Durchatmen zwischendurch. 

Die neue Situation kann auch eine Chance sein, ganz bewusst andere erogene Zonen neu zu entdecken. Vielleicht fragen Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin einmal:  

  • “Was wünscht Du Dir?” 
  • “Was würde Dir gerade gut tun?” 
  • “Was möchtest Du ausprobieren?”  

Dann tauschen Sie die Rollen und teilen dem Partner oder der Partnerin Ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien mit und erlauben es sich, diese genussvoll zu empfangen. Dabei kann Sie ruhig einmal nur bei sich bleiben, denn Ihr Gegenüber hatte ja vorher seinen Raum. 

Lust entsteht nicht durch Technik allein, sondern durch Vertrauen, gegenseitige Akzeptanz und eine spielerische Haltung, in der es erlaubt ist, neugierig und offen füreinander zu sein. 

Inseln der Nähe schaffen durch Kommunikation

Viele Paare verlieren sich nach einer Krebserkrankung nicht, weil sie sich nicht mehr lieben würden – sondern weil sie aufhören, miteinander zu sprechen. Häufig bleiben die Themen, die wirklich wichtig sind, unausgesprochen: die Angst vor Zurückweisung, die Sehnsucht nach Geborgenheit oder die Unsicherheit darüber, wie man körperlich wieder zusammenfindet. 

Deshalb ist es so wichtig, die gemeinsame “Paarzeit” bewusst zu gestalten – abseits von Alltagsorganisation oder Fernsehgewohnheiten. Schaffen Sie kleine Inseln, in denen Nähe möglich wird und Gespräche stattfinden können, die jedoch keine Lösungen erfordern, sondern einfach nur Präsenz und Offenheit füreinander bieten. 

Manchmal ist es auch hilfreich, Unterstützung von außen zu suchen, zum Beispiel in psychoonkologischen oder therapeutischen Gesprächen. Nicht, weil „etwas kaputt“ ist, sondern weil Beziehungen Pflege brauchen – und für Sexualität Offenheit nötig ist. 

Ein neuer Blick auf die Liebe

Die meisten Menschen kennen diese stille Sehnsucht: Noch einmal verliebt sein wie früher, noch einmal die erste Zeit mit Schmetterlingen spüren, noch einmal vor Sehnsucht und Leidenschaft vergehen. Doch wir wissen auch, dass die Vergangenheit sich nicht zurückholen lässt. 

Was sich aber gestalten lässt, ist eine tiefe, ja reife Form der Liebe – eine Verbindung, die getragen ist von Vertrauen, Verletzlichkeit und Ehrlichkeit. Vielleicht entdecken wir unseren Partner oder unsere Partnerin neu, gerade weil wir gemeinsam durch eine Krise gegangen sind. Vielleicht lernen wir uns selbst auch ganz neu kennen: mit anderen Bedürfnissen, neuer Neugier, anderer Sinnlichkeit. 

Sexualität nach Krebs mag oft anders sein – aber keinesfalls weniger wertvoll. Sie braucht vielleicht mehr Kommunikation, mehr Vorbereitung und auch mehr Mut. Doch genau deshalb kann sie tiefer, ehrlicher, freier werden. 

Sexualität mit neuer Normalität

Am Ende geht es nicht um das „Zurück zur alten Normalität“. Sondern um ein neues Normal – das wir aktiv mitgestalten dürfen. Vielleicht war diese Krise nicht gewollt. Aber sie kann der Beginn einer anderen Beziehung sein – zu uns selbst, zu unserem Körper und zu unserem Partner oder unserer Partnerin.  

Auch wenn das vielleicht etwas schwer verständlich klingt: Einige Frauen, die ich begleitet habe, haben im Nachhinein festgestellt, dass ihre Sexualität vor der Erkrankung wenig bewusst und vielleicht auch etwas festgefahren war und dass sie die neue Perspektive auch als Chance für Ihre Partnerschaft begreifen können. Denn wir schulden dem Leben nicht nur das Überleben. Wir schulden dem Leben auch das Strahlen in unseren Augen – und das an jedem einzelnen Tag! 

Die Informationen auf dieser Seite können eine professionelle Beratung durch ausgebildete und anerkannte Ärztinnen und Ärzte nicht ersetzen. Auch dienen sie nicht dazu, eigenständig eine Diagnose zu stellen oder eine Therapie einzuleiten.

Sonja Maria Busch ist Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe und Psychoonkologin. Sie betreibt eine Krebsberatungsstelle und eine Frauenarztpraxis in Kloster Lehnin in Brandenburg. 

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